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Drehbericht zu "Mit dem Zug zur WM 2002 nach Korea"

Mit dem Zug zur WM

Text: Jörg Heinisch, Ausschnitte aus dem Buch "Das Abenteuer Groundhopping geht weiter" (2004)

Die Idee von Fari, den Besuch der Weltmeisterschaft in Korea mit der Fahrt der transsibirischen Eisenbahn zu verbinden, fand bei mir schnell Anklang. Die Strecke hatte mich als Bahner-Sohn schon vor Jahren gereizt, als ich im Auslandskursbuch der Deutschen Bahn den Fahrplan nach Wladiwostok und Peking (mit Anschlusszug in ... die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang) studierte und die Strecke auf der Landkarte nachfuhr - ein für mich großes Faszinosum, konnte man so doch per Zug sogar bis Singapur gelangen. Für Fari war dies noch eines der letzten Abenteuer, das er erleben wollte. Für uns war selbstverständlich, diese Tour mit Stadionbesuchen zu füllen. Tatsächlich sollten es am Ende der Reise exakt 15 besuchte Fußball-Tempel sein. Sprachprobleme hofften wir mit Hilfe Faris bescheidener Russischkenntnisse umgehen zu können.

transsib11.JPGZunächst stand jedoch die Planung der Reise an: Da es von Deutschland aus nur möglich war, über ein registriertes Reisebüro die Zugfahrkarte und Reservierung von Moskau nach Wladiwostok zu ergattern, blieb nur dieser für Groundhopper teurere Weg - zumal diese Reservierung wiederum vorzulegen war, um die Visa für Weißrussland und Russland zu erhalten. Die Problematik hatten wir an dem Teilstück von Wladiwostok nach Seoul gesehen, wollten wir doch in jedem Fall auch hier per Zug reisen (via Cheongjin und Pjöngjang), damit wirklich die komplette Reise auf Gleisen zurückgelegt werden würde. Dass man eigentlich als Westeuropäer nicht in den "Schurkenstaat" Nordkorea einreisen kann - sieht man mal von investitionswilligen Kaufleuten ab - wurde von uns aufgrund zugesagter Unterstützung durch den Norddeutschen Rundfunk (Stichwort Filmprojekt) nicht als Problem gesehen. Berichte über entführte und seit Jahren gefangene Japaner oder andere Gangster, die im Ausland für Nordkorea auf kriminelle Art Finanzmittel erpressen sollen, schreckten uns genauso wenig ab wie die Aussicht auf einen Begleiter, der für die Dauer der Durchquerung Nordkoreas auf uns aufpassen würde, oder das allgemeine Fotografierverbot, das Bilder von diesem Stück der Reise verhindert hätte. Die Zugverbindung von der einige Stunden von Wladiwostok entfernte Stadt Ussurijsk, von wo täglich einmal ein Zug Richtung nordkoreanischer Grenze aufbricht, war längst ausgedruckt.

Mehr Kopfschmerzen bereitete mir Faris Wunsch, irgendwo in Sibirien auf einem Bahnhof aussteigen zu wollen, um ein Zwischenstück per Bus oder "Leihwagen" zurückzulegen. Er hoffte auf etwas Abwechslung und Abenteuer. Dass dadurch unsere Fahrkarte ungültig werden würde und von vornherein zwei einzelne, in der Summe deutlich teureren Fahrkarten angeschafft hätten müssen, verhinderte als Argument zum Glück, dass wir den Zug im Irgendwo verließen, um mit einem fahrbaren Untersatz womöglich noch genau dem Zug hinterher zu jagen, den wir zuvor verlassen hatten. Wir hätten bei dem sibirischen "Straßennetz" nicht den Hauch einer Chance gehabt.

Der richtige Reiseführer für die Transsib befand sich genauso in unser beidem Gepäck wie eine ausreichende Zahl US-Dollar. Genaue Fahrplandaten über jeden Halt und - dank Beziehungen - ein Empfehlungsschreiben des russischen Ministeriums für Eisenbahnwesen, das uns später mehr als die Erlaubnis, Strom für Akkus aus der Zugsteckdose zu ziehen, einbrachte ...

Knapp zwei Wochen vor der WM-Eröffnung traf ich mich mit dem aus Furtwangen im Schwarzwald anreisenden Fari, um dieses ungewöhnliche Abenteuer anzugehen. Zu diesem Zeitpunkt waren den deutschen Fußball-Anhängern, die Eintrittskarten über den DFB bestellt hatten, weder Karten noch Ersatzgutscheine zugeschickt worden. Enorme Nervosität machte sich breit, aber nicht bei uns. Glücklicherweise - so dachten wir - hatten wir nicht beim DFB bestellt. Bis Moskau waren fast ausschließlich Nachtfahrten vorgesehen, während wir tagsüber die großen Städte (Warschau, Minsk, Moskau) und vor allem Stadien besuchen wollten. Was wir nicht wussten und erst nach unserer Rückkehr aus Korea erfuhren, war, dass unmittelbar nach unserer Abfahrt etwa zehn TV-Anstalten versuchten, sich mit uns für ein Interview zu verabreden - die dpa-Meldung über unsere Abfahrt war gerade veröffentlicht worden. Pech für die Sender.

Standesgemäß (für Fari) ungewöhnlich begann die Reise schon im Frankfurter Hauptbahnhof: "Du bist doch Groundhopper, oder?", wurde Fari im Schließfachbereich gefragt. "Ich habe im Fernsehen Bilder von Dir gesehen, wo Du in Kasachstan warst!" Treffender konnte es einfach nicht beginnen! Sollten sich ungewöhnliche Vorkommnisse später in Grenzen halten, hatte der Schaffner nach der Abfahrt im ICE Richtung Hannover die nächste Überraschung parat. Ungläubig stellte er fest, dass auf dem ersten, nur von Fari befahrenen Teilstück der Schaffner irrtümlicherweise die Rückfahrt (!) entwertet hatte, wodurch theoretisch bereits der ganze Fahrschein von uns beiden nach Moskau ungültig gewesen wäre. Das konnte uns allerdings auch nicht schocken - die Rückfahrt, die bei dem Spezialticket inbegriffen war, wollten wir sowieso nicht antreten.

In Hannover verabschiedeten wir uns bereits für den Rest der Reise von der höheren Zugqualität und bestiegen unseren ersten Schlafwagen. Diese erste Nacht nach Warschau in polnischen Betten hatte es auch gleich in sich. Die Temperaturen und das geschlossene Abteil sorgten für Sauna-Feeling - ein Mitreisender schlief nur in Unterhose, natürlich ohne Zudecke.

"Warschau per pedes" sorgte für drei Fotomotive (Stadien von Polonia und Legia sowie das alte Nationalstadion), einem Seufzer aufgrund des erst am nächsten Tag stattfindenden Länderspiels zwischen Polen und Estland und vor allem für schwere Beine, die nach der Abfahrt am Abend genügend Erholung erfuhren. Ablenkend waren lediglich:

· Als Fari das obere Bett aus der Verankerung riss und nicht wiederverankern konnte. Das Bild, das er danach ablieferte, war allerdings erste Klasse: Mit dem Rücken auf dem mittleren Bett abstützend, drückte er mit Händen und Füßen das obere Bett hoch - vergebens, der Schlafwagenschaffner musste helfen.

· Die scharfe Grenzkontrolle (wir wollten einen Tag vor Gültigkeit unseres Visa einreisen und kamen sogar durch).

· Der Spurwechsel in Brest (breitere russische Spurweite der Eisenbahn; die Wagen wurden einzeln in eine Halle gefahren, angehoben und erhielten neue Fahrgestelle).

· Das Umsteigen in Minsk.

In Weißrusslands Hauptstadt wichen wir von der West-Ost-Tangente Richtung Moskau ab und starteten einen Abstecher an die Grenze zur Ukraine. Nach 5½ Stunden trafen wir in Gomel ein, wo wir im zweiten Anlauf auch das Stadion von FK Gomel fanden. Vor 2.000 Zuschauern trat der Gastgeber im Rückspiel des weißrussischen Pokalhalbfinals gegen Dynamo Brest an und schaffte tatsächlich mit dem Einzug ins Endspiel und dem späteren Finalsieg den größten Erfolg in der Vereinsgeschichte. Abgesehen von den leckeren Schaschlik-Spießen gab es im Stadion nichts Besonderes zu beobachten - auch hier gab es das Fang-mich-Spiel rennender Ultras und Polizisten sowie Lautsprechermusik von den No Angels.

Froh, der wenig einladenden Stadt und der abschreckenden Hocktoilette des Busbahnhofs entkommen zu können, ging es im Nachtzug in 6½ Stunden zurück nach Minsk, wo am nächsten Tag die Stadien von Dynamo, Traktor und Torpedo Minsk für Faris Stadionfotosammlung fällig waren.

Fiel uns in Polen noch das stark angestiegene, fast schon an Deutschland heranreichende Preisniveau auf, so waren es in Weißrussland die geringe Bevölkerungsdichte und die Ärmlichkeit. Arbeitslosigkeit versucht man hier wie in den meisten östlichen Ländern mit "Massenanstellungen" zu begegnen. Fahrkartenschalter beispielsweise reihen sich in dem Bahnhof der Hauptstadt gleich 24 auf. Trotz der Vorlage unserer Fahrkarte nach Moskau wollten uns gleich drei Verkäuferinnen neben der eigentlich von uns nur gewünschten Platzkarte ein weiteres Ticket verkaufen. Dabei nannte eigenartiger Weise jede einen anderen Preis!

Moskau empfing uns mit leichtem Schneefall (es war Ende Mai!). Das Pflichtprogramm sah hier sieben Stadionbesuche vor, von denen letztlich die bei Torpedo-Sil, Dynamo, Lokomotive (eine neu gebaute, im Juli eröffnete Arena), Moskwitsch (2. Liga) und Torpedo (teilen sich das Stadion mit Spartak) verwirklicht werden konnten. Besonders beeindruckend war der riesige türkische Basar, der um das Lushneki-Stadion herum aufgebaut war - LKWs, deren Dächer noch zugestellt waren, ohne Ende ...

Ich bestand darauf, wenigstens mal kurz vor dem Kreml über den Roten Platz zu laufen, was Reisegefährte Fari auch brav über sich ergehen ließ.

Ansonsten bleiben von Moskau vor allem zwei Dinge in Erinnerung: die bis tief in den Untergrund führenden Marmor-Prunkbauten der Metro und die Frage, warum es notwendig ist, bei McDonalds pünktlich alle fünf Minuten die gleichen Bodenflächen neu zu wischen ...

transsib02.JPGAm Jaroslaver Bahnhof begann schließlich die einwöchige Fahrt Richtung Pazifik. Zunächst nahmen wir die dortige Atmosphäre des Platzes auf, um den gleich drei Bahnhöfe angesiedelt sind (in Deutschland wäre es einfach ein einziger Bahnhof). Wir beobachteten die mit massenhaft Übergepäck bestückten Reisenden, vergaßen aber nicht, noch rechtzeitig Wasserflaschen und Toilettenpapier (sehr wichtig!) einzukaufen. Bevor wir einsteigen konnten, wurden unsere Fahrscheine noch sorgfältig von den beiden Waggonschaffnerinnen geprüft und die darauf festgehaltenen Namen mit unseren Reisepässen verglichen.

Dann befanden wir uns also endlich auf der Strecke der transsibirischen Eisenbahn. Wir reisten mit dem etablierten Zug Nr. 2, der als einziger alle zwei Tage in Moskau startet, um eine Woche später in Wladiwostok anzukommen. (Dafür zahlten wir Deutsche übrigens das festgeschriebene Vierfache von dem, was GUS-Bürger hinblättern müssen.) Gebucht hatten wir zwei Betten in einem Vier-Betten-Abteil (2. Klasse), das gegenüber dem Zwei-Betten-Abteil fast die Hälfte billiger war. Großraumschlafwagen der dritten und vierten Klasse, die wir alleine schon aus Sicherheitsgründen abgelehnt hätten, gab es in diesem Zug "gehobenen Anspruchs" nicht.

Gewöhnen mussten wir uns an die zwei unterschiedlichen Uhrzeiten, mit denen man konfrontiert wurde: Der Fahrplan wie auch die Uhren auf allen russischen Bahnhöfen entsprechen Moskauer Zeit; die Ortszeiten, die u. a. auch für die Essenszeiten im Speisewagen relevant sind, weichen auf der Strecke der Bahn hingegen um bis zu acht Stunden ab. Wer z.B. glaubt, Wladiwostok um 23:06 Uhr (Fahrplanzeit) zu erreichen, wird feststellen, dass er nach der Ortszeit um 6:06 Uhr am nächsten Morgen ankommt.

Alle vier Stunden gab es etwa einen Halt. Für die Versorgung der Reisenden sorgten die Babuschkas (i.d.R. alte Frauen), die - bei etwas längeren Halten auf dem Bahnsteig aufgereiht - Lebensmittel anboten. So hatte man Gelegenheit, Wasser in Flaschen, Kartoffeln, Teigtaschen mit Hackfleisch oder Gemüsefüllung oder auch einmal Stockfisch zu erwerben. Der Verkauf ist für die Frauen oft deren einzige Einnahmequelle. Eine Alternative ist der Speisewagen, in dem überraschender Weise "Dekorations-Gedecke" entfernt werden, sobald man sich zu Tisch gesetzt hat. Im Speisewagen lassen sich die Einheimischen nie sehen. Sie richteten es sich in ihren Abteilen wie zu Hause ein und kauften bei den Händlern auf den Bahnsteigen ein, nachdem die Ware kritisch hinterfragt wurde. Auch der Tisch in unserem Abteil war schon bald von Lebensmitteln gefüllt, die dann später meist offen liegen blieben.

In der ersten Nacht im Zug wird es spät für uns: Einen Tag reiste die 19-jährige Katja mit uns, die nach drei Wochen "Liebesurlaub" mit ihrem amerikanischen Freund zurück nach Perm reiste, wo sie Jura studiert. Die Hochzeit mit ihrem Freund, den sie so selten sieht, hat sie schon fest vor Augen. In Gedanken bei ihrem Freund starrte sie bis 3 Uhr in der Nacht vor sich hin, bis wir nach mehreren Gesprächen endlich alle schlafen konnten. (Wir mussten warten, da wir die unteren "Betten" des Vier-Personen-Abteils hatten, auf denen man sich "tagsüber" aufhält.)

Als wir am ersten Morgen nach der Abfahrt aus Moskau aus dem Fenster schauten, blickten wir erstaunt auf eine absolut weiße Schnee-Landschaft, von der allerdings einen Tag später - auch bei der Durchquerung des Urals - nichts mehr zu sehen war. Der Ural, ein sehr lang gezogener Gebirgszug ohne hohen Kamm, der die Grenze zwischen Europa und Asien darstellt, enttäuschte uns eher - es gab irgendwie nichts Spektakuläres zu sehen.

Eine Hitze von bis zu 30°C sorgte ab dem dritten Tag (etwa ab Novosibirsk) für eine dicke Luft, die u. a. durch den Bierkonsum des im Abteil mitreisenden 46-jährigen Matrosen Nikolai nicht besser wurde. Wodka und Bier gab es bei ihm schon zum Frühstück. Dass er in seiner zweiten Nacht im Zug gleich zweimal aus seinem Hochbett fiel, wusste er am folgenden Morgen bereits nicht mehr. Der Vierte im Abteil war der 22-jährige Roman, der gerade seinen Militärdienst in Tschetschenien beendetet hatte und sich auf dem Rückweg zu seiner Familie mit seinen 14 Geschwistern nach Wladiwostok befand. Mit ihm spielten Fari und ich zum Zeitvertreib viele Partien Mühle und Kniffel. Faris paar Brocken Russisch, einzelne englische Worte sowie Handzeichen reichten meist aus, um sich irgendwie zu verständigen.

Nach dem zweiten Tag wurde bereits kein Toilettenpapier mehr ausgegeben, ein Umstand, auf den man sich vor der Abfahrt in Moskau einstellen musste, was wir ja zum Glück auch taten. Toilettenpapier hätte man im Zug wohl gut verkaufen können - angeboten wurden von Händlern (während der Zugfahrt) Souvenirs wie Gläser, Pelze oder auch russische Bücher für den Zeitvertreib.

Nervenkitzel konnte man bekommen, wusste man, dass der Zug zwischendurch mal Verspätung hatte. So war nicht unbedingt klar, dass die sonst immer ganz genau eingehaltene Haltedauer an den Bahnhöfen auch wirklich befolgt werden würde. Wer nicht mitbekam, dass statt der fahrplanmäßigen 15 min ausnahmsweise nur ein 2 min-Halt eingelegt würde, konnte im schlimmsten Fall in Pantoffeln vor einem leeren Gleis stehen. Hier wartet kein Zug - und damit wäre die Fahrkarte, die nur für genau den einen Zug gültig war, wertlos. So durfte auch Fari zwischendurch einmal einen Spurt einlegen - er war der einzige, der noch draußen herumstöberte ...

Erschreckend ist das fehlende Umweltbewusstsein der Russen. Da fliegt bei manchen Einheimischen tatsächlich jeder Abfall aus dem Fenster. Manche Städte erwecken fleckchenweise den Eindruck von Müllkippen. Sehr traurig!

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Der Streckenverlauf über Gorki, Perm, Jekaterinenburg (wo einst die Zarenfamilie ermordet wurde), Omsk (der Zug umfasste nun 16 Wagen = Länge ca. 385 m), Novosibirsk und Krasnoyarsk hatte erst kurz nach Irkutsk seinen ersten richtigen Höhepunkt: am Baikalsee, der 20% der Süßwasserreserven der Erde birgt. Dank einer Sondererlaubnis des russischen Ministeriums für Eisenbahnwesen erlebten wir während der 2½ stündigen Umfahrung des Sees den Sonnenaufgang auf der Lokomotive - ein einmaliges Erlebnis! Beim Anblick der alten Fähranlagen auf der Ostseite des Sees (vor vielen Jahren wurden die Züge noch per Fähre auf die andere Seite des Sees gebracht, sofern dieser nicht zugefroren war) musste ich an die (im Reiseführer nachgelesenen) historischen Ereignisse vom Februar/März 1904 denken, als im russisch-japanischen Krieg der Nachschubweg gesichert werden musste und tatsächlich für einen Monat die Gleise über das Eis gelegt und auch genutzt wurden.

Im Speisewagen trafen Fari und ich fünf kroatische Studenten aus München, die bis Moskau geflogen waren und ebenfalls die transsibirische Eisenbahn nutzten, um zur WM zu reisen. In Wladiwostok planten sie eine Fähre nach Japan zu besteigen. (Die fährt aber nur einmal in der Woche und benötigt 42 Stunden für die Überfahrt - zur Sicherheit wurde ein Flug reserviert.) Die Fünf hatten ein halbes Jahr für die Reise gearbeitet. Einer von ihnen häufte mit 70 EUR Startkapital über 3.000 EUR durch Sportwetten an, um diese dann eine Woche vor der Abfahrt vollständig zu verlieren.

Die Strecke, die immer in der Nähe der Grenze zu Kasachstan, der Mongolei bzw. China verlief, führte nach den Abzweigen nach Ulan-Baator und Peking hinter Ulan-Ude bzw. Cita anschließend nur durch kleinere Ortschaften, aber auch durch schöne grüne Täler mit breiten Flüssen, bis dann im Osten nach der Überquerung des Amur die Metropole Chabarovsk auftauchte. War die Landschaft bisher doch ziemlich monoton - zunächst erblickte man nur die Birken der Taiga, später in etwas höheren Lagen fast nur Fohrenbäume - so sah man auf dem letzten Stück bis Wladiwostok noch mitteleuropaähnliche Baumarten und Büsche. Die letzten Stunden wurden per Nachtfahrt zurückgelegt, soll den Reisenden doch der Blick in die an der Strecke liegenden Militäranlagen verwährt bleiben.

Fari war von der bisherigen Fahrt enttäuscht. Ihm fehlten die unvorhersehbaren Schwierigkeiten wie Eisenbahner- oder Fluglotsenstreik, gesperrte Strecke ("schmelzende Gleise" nach Feuer!) oder was noch alles passieren kann. Mir hingegen war das sehr recht - mir reichten das 45 min vor der Abfahrt in Minsk nicht zu öffnende Gepäckschließfach, ein notwendiger Zwischenspurt in Moskau sowie eine geplatzte Verabredung mit einem durch meinen Beruf kennengelernten Geschäftskunden an der Bahnlinie (damit der Ausfall einer Faxübertragung nach Deutschland) und eine während eines Halts neben mir vom Zug herunterfallende Bremsscheibe (!), für die das Zugpersonal nur Achselzucken übrig hatte, bereits.

Die Fahrt bis zur russisch-nordkoreanischen Grenze stellte sich für uns eigentlich nie als Problem dar - offen war immer, ob sich unser Wunschplan, die gesamte Strecke bis zur WM-Eröffnung per Schiene zurückzulegen, überhaupt realisieren lässt, wenn die Grenze zwischen Süd- und Nordkorea nicht überschritten werden kann. Nach dem Koreakrieg von 1953 wurden die innerkoreanischen Grenzen geschlossen und bis kurz vor der WM auch nicht wieder geöffnet. Die einzige Möglichkeit von Nordkorea nach Südkorea zu reisen bestand durch eine Flugverbindung über China oder mittels einer Schiffspassage im Rahmen einer auf ein oder zwei Tage begrenzten Familienzusammenführung von Nord- und Südkoreanern in einem nordkoreanischen Hafen. Letztere Möglichkeit hätte uns auch bei der richtigen Nationalität nicht weiter geholfen, die erste ergab keinen wirklichen Sinn.

Doch bestand Hoffnung, dass die Zeit die Geschichte einholt: Bereits im Herbst 2001 sollte gemäß eines Abkommens beider Staaten die 1953 geschlossene Bahnverbindung zwischen Pjöngjang und Seoul wieder eröffnet werden. Chinesische Fußball-Anhänger sollten damit die Chance haben, per Zug zur WM anreisen zu können - für Nordkorea bestand das offizielle Interesse jedoch im "Arirang"-Festival, dass - zufällig im gleichen Zeitraum wie die WM ... allerdings um einen Tag versetzt - in Pjöngjang stattfinden sollte.[1] Doch die Nordkoreaner ließen sich Zeit. Während die Südkoreaner auf ihrer Seite längst fertig waren, fehlte auf der Seite der nördlichen Brüder immer noch ein 14 km langes Stück. Trotz einer Pressemeldung, das u. a. durch die entmilitarisierte Zone führende Stück könne noch vor Beginn der WM geschlossen werden und damit die Strecke zunächst für ein das Festival abdeckendes Zeitfenster - unser Zeitfenster! - geöffnet werden, versicherte mir die neu eröffnete Deutsche Botschaft in Pjöngjang via E-Mail, dass dies bis Ende Mai nicht zu erwarten sei. So blieb nach 9.201 Transsib-Kilometern (Respekt für diese Bauleistung!) oder bis dahin weit über 12.000 km ab Deutschland nur der kurze Flug von Wladiwostok nach Seoul, dem selbstverständlich erst noch der Besuch des Stadions von Dynamo Wladiwostok vorausging. ... und die Ausreise - die lief allerdings nicht perfekt, bemerkten die Grenzbeamten doch, dass bei Fari und mir der Einreisestempel nach Russland fehlte. Im Gegensatz zu Faris Ausreiseversuch aus Guinea nach Sierra Leone 1993[2] wurde erfreulicher Weise keine Waffe gezogen - wir wurden nur an die Seite gestellt. Den Einreisestempel gab es tatsächlich nicht, da zwischen Weißrussland und Russland keine Grenzkontrollen stattfinden und entsprechend der weißrussische Einreisestempel reichte - das wussten die Grenzer hier auf der anderen Seite dieses großen Landes aber nicht! Erst mit einigen Minuten Verzögerung und Nachfragen bei Vorgesetzten ließ man uns weiter ziehen.

Seoul überraschte uns - vielleicht auch wegen des Gegensatzes zu Russland - mit einem topmodernen Flughafen, mit modernen und restaurierten Bauten und vorbildlicher Sauberkeit soweit das Auge reichte sowie mit einer perfekten Organisation. Perfekter geht es nicht! Plakate und Fahnen zur WM überall, Parkplatzanweiser im koreanischen Nationaldress und zahlreiche Gebäude, die mit Bildern koreanischer Fußballer verhängt waren!

transsib06.JPGDer Aufenthalt in Seoul sollte für uns mehr Probleme mit sich bringen als zuvor während der "Anreise". Da wir für die ARD Filmmaterial von unserer Reise mitbringen sollten bzw. in Korea noch zu Filmaufnahmen zur Verfügung stehen sollten[3], war vereinbart, dass Fari und ich kostenlos in einem von der ARD gemieteten Raum schlafen konnten, sowie Eintrittskarten (Zugangsberechtigungen) für das Eröffnungsspiel bekommen sollten. Der Reporter, mit dem dies vereinbart wurde, arbeitete in Japan und informierte - wie sich dann zeigte - seine Kollegen in Seoul nicht ausreichend über diese Vereinbarung bzw. machte Zusagen, die gar nicht einzuhalten waren. Letztlich erhielten wir ein kleines Budget von den Journalisten, mit dem wir uns in einem günstigeren Hotel ("Stundenhotel") einquartieren und auf koreanische Weise (ohne Bett, auf dem Boden) nächtigen konnten. (Nach der ersten Nacht stellten wir fest, dass alle anderen Zimmer Betten hatten - na toll!)

Es war der Tag der Eröffnung der Weltmeisterschaft. Fari hatte bereits am Vortag die Anlage um das Stadion erkundschaftet und einen Plan erarbeitet, wie er die dritte WM in Folge kostenlos auf die Ränge kommen wollte. Hinter dem äußersten Zaun standen nach Innen hin mehrere TV-Übertragungsfahrzeuge - diese wollte er nach dem Erklimmen des Zauns als Brücke und Deckung nutzen, um anschließend die folgenden Sicherheitskontrollen auf andere Weise zu überwinden - doch die Fahrzeuge standen diesmal nicht an der Stelle - dieser Plan war bereits gescheitert.

Eintrittskarten für die Eröffnungsfeier und anschließendem Auftaktspiel Frankreich - Senegal mussten wir uns also beide auf dem Schwarzmarkt beschaffen. Während ich zufrieden war, noch die günstigste Kategorie zum Originalpreis von 150 US-Dollar erwerben zu können - die Preise lagen zuvor noch bei bis zu geforderten 700 US-Dollar -, wollte sich Fari an seinen früher geleisteten Schwur halten, nie mehr als 60 Dollar für ein Fußballspiel zu zahlen. Wir zogen eine Runde nach der anderen um das Stadion und sahen uns dabei pausenlos von TV-Teams und Fotoreportern umringt, da nur Fari in der großen Menschenmasse mit einem "Need Ticket"-Schild unterwegs war. Dieses Motiv war dann weltweit in Zeitungen abgebildet!

Kürzen wir seine Kartensuche ab: Er bekam zweimal einzelne Karten der Kategorien 550 bzw. 500 Dollar geschenkt - "Welcome in Korea!" sagte man ihm. Diese verkaufte er zusammen für 800 Dollar an einen Amerikaner, verringerte seine Reisekosten dadurch erheblich, stand dann aber wieder ohne Karte vor dem Stadion. Nach der Eröffnungsfeier und zu Beginn des Spiels lag der geforderte Preis auf dem Schwarzmarkt immer noch bei 300 Dollar. Trotzdem schaffte es Fari, zur Halbzeit durch ein kurz geöffnetes Tor zu schlüpfen und damit kostenlos die Arena zu betreten. Kurz danach saßen wir dann beide unterhalb der frei zugänglichen Ehrentribüne und genossen die letzten Momente im Stadion, bevor wir nach einer letzten Übernachtung die zehn Stunden und 40 Minuten Rückflug nach Frankfurt antraten. Schließlich wollten wir die WM verfolgen - und das kann man dann doch am besten zu Hause vor dem TV-Gerät.

 
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